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Zweifel an der Sanktionspolitik gegen Russland – Wo sind die Realos geblieben?
Die EU-Kommission sitzt inzwischen an der Planung des siebten Sanktionspakets gegen Russland – ohne auch nur einmal zu verifizieren, ob diese Methode wirklich die erwünschte Wirkung erzeugt. Derweil verlassen viele Konzerne unter der erpresserischen Knute aktueller und drohender Sanktionen Russland und China. Die materiellen und immateriellen Verluste sind unschätzbar. Warum tut der Westen sich das an?
Vielleicht bin ich ja die Einzige, die allmählich beginnt, den immer gleichen Beteuerungen von der neuen Geschlossenheit und der nie da gewesenen Stärke des Westens nicht mehr zu glauben. Während sich die Gipfeltreffen von EU, G7, Nato, G20 regelrecht jagen und immer neue Posterbilder von schulterklopfenden, von ihrer Mission beflügelten Staatsmännern und -frauen täglich über alle Kanäle flimmern, kommt mir das Ganze allmählich so vor wie das Pfeifen im Walde.
Ich höre: Wir leben in einer „Zeitenwende“, die dieses Vorgehen alternativlos macht. Das sogenannte Neue an dieser Wende ist aber dem Begriff nach zu schillernd, als dass es einen eindeutigen Sinn ergeben würde. Es lohnt sich also, darüber nachzudenken. Zum Vergleich: 1990 gab es eine echte Zeitenwende, weil die bis dahin geltende Ordnung der Welt, die Teilung in zwei Blocksysteme, die sich mit gegenseitiger atomarer Bedrohung in Machtbalance hielten, auf erstaunlich gewaltfreie Weise aufgelöst wurde.
Heute wird behauptet, seitdem gäbe es eine neue „regelbasierte Ordnung der Welt“, die nur der Diktator im Kreml mit seinem ohne Zweifel völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zerstört habe. Weswegen eben alle aufrechten Demokratien der Welt nun fest zusammenhalten müssten, um diese Ordnung zu verteidigen gegen die am Horizont drohenden neuen Autokratien. So erheben sich aus der blutigen Tragödie eines Krieges die neue Daseinsberechtigung der Nato und der neue Führungsanspruch des Westens wie Phönix aus der Asche – sie erscheinen als die Essenz dieser Wende-Legende.
Rhetorik des Epochenbruchs
Drei Gründe sprechen gegen diese These. Erstens ist der russische, durch nichts zu rechtfertigende Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht der erste Krieg, der nach 1990 gegen die Regeln des Völkerrechts geführt wurde (Kosovo, Irak). Das macht die Sache keineswegs besser, aber sollte doch etwas die Rhetorik des Epochenbruchs bremsen.
Zweitens ist es gerade das größte Versäumnis der Jahre nach 1990, dass keine neue europäische Sicherheitsordnung formuliert wurde, die sowohl den neuen postsowjetischen Demokratien als auch dem damals noch demokratischen Russland einen angemessenen Platz in einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem vermittelt hätte. Es gab nie eine Antwort auf die durchaus berechtigten Fragen von Gorbatschow, Jelzin, Putin und Medewew: „Welchen Platz bietet das Nach-Kalte-Kriegs-Europa eigentlich den Russen in dieser Nachkriegswelt an?“
Europa hat nach 1990 keine haltbare Form gefunden, die den Namen Friedensordnung verdient hätte. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Ralf Mützenich hat deswegen zu Recht festgestellt: „Wir werden es einmal vor unseren Kindern zu verantworten haben, dass wir ihnen keine bessere Welt hinterlassen haben.“
Zum Dritten: Gerade weil die echte Zeitenwende von 1990 keine haltbare Friedensordnung hervorgebracht hat, markiert das Postulat einer heutigen Zeitenwende wohl eher die Rückkehr zum alten Elend der Blockkonfrontation und ihrer Logik der wechselseitigen gegenseitigen Bedrohung. Da sich aber nichts im Leben einfach nur wiederholt, erscheint diese neue mentale Aufrüstung noch gefährlicher – geht es doch diesmal nicht nur um die „größte Bedrohung der Nato durch Russland“ (Generalsekretär Stoltenberg), sondern um die ganz große zukünftige Auseinandersetzung mit China.
Zeitenwende als Teil der Strategie
Die wundersame Auferstehung der Daseinsberechtigung der Nato als Sinn und Zweck der Zeitenwende ist also Teil einer Strategie, die erneut die Welt mit dem schärfsten aller Schwerter, mit dem der Ideologie, zerteilt. Wir, die wir fassungslos und oft hilflos einer Kriegskatastrophe mit Tausenden von Opfern zusehen, die im Verlauf immer deutlicher zu einem klassischen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen wird, werden aber stündlich ermahnt, nicht vom fahrenden Zug abzuspringen, uns nicht vom Kriegsherrn im Kreml aufspalten zu lassen – denn das Volk der Ukraine kämpfe schließlich für uns alle, für unsere Freiheit. „Sie sterben für Europa, sie haben verdient, den europäischen Traum mit uns zu leben“ (so Ursula von der Leyen, die sprachlich gern übergriffig wird).
Der Charakter dieses Krieges als völkerrechtswidriger Angriffskrieg und seine mediale Bearbeitung suggerieren, dass wir, der Westen, nur Helfer, Retter und Unterstützer in einer gerechten Sache seien. So vernebelt sich, dass wir Partei sind, nicht nur mit unseren Sympathien für die angegriffene Nation. Wir haben eigene Interessen und Machtoptionen im Spiel. Wir werden gerade durch eine umfassende moralische Aufrüstung und Dauerbeschallung immer tiefer hineingezogen in die geopolitische Schlachtordnung, die in Zukunft offenbar ausgefochten werden soll: Freiheit gegen Tyrannei, Demokratie gegen Autokratie und Despotie, Gut gegen Böse, der Westen gegen Russland und China.
Wenn dieser Krieg eines fernen Tages zu Ende sein wird, werden wir vermutlich Jahrzehnte über die Frage seiner Anlässe, seiner Alleinschuld und seiner Ursachen diskutieren und darüber, ob er wirklich eine „Zeitenwende“ war oder nur ein weiterer Krieg in der Reihe von Weltkatastrophen, die alle aus der Unfähigkeit der großen Mächte entspringen, eine multipolare Welt zu begründen, die wirklich getragen wird von den Friedensregeln der Uno, von gegenseitigem Respekt vor unterschiedlichen Traditionen und kulturellen Gesellschaftsvorstellungen. Heute aber können wir bereits sehen, dass zwei Dinge erheblich zur Verschärfung des Konfliktes beigetragen haben.
Zweifel sind angebracht
Erstens: Die irrige Ansicht, der Westen sei als „Sieger“ aus der Zeit des Kalten Krieges hervorgegangen und nunmehr seien seine Regeln und Werte das heimliche Sehnsuchtsziel aller Völker der Welt. Dazu muss man nur einmal das Interview ansehen, das ein Greenhorn von ZDF-Journalist mit der wunderbar souveränen südafrikanischen Außenministerin Naledi Pandor während des G7-Treffens auf Schloss Elmau gehalten hat (27. Juni 2022). Das war zum Fremdschämen peinlich – und zugleich ein definitiver Beleg, dass eine bestimmte moralische Erpressung bei vielen Staaten der Welt, die alle ihre schmerzhaften Erfahrungen mit dieser westlichen Weltüberlegenheit haben, nicht mehr verfängt.
Und zweitens: Das inzwischen aus jedem Maß geratene Sanktionssystem, mit dem man das Einhalten der einmal selbst postulierten Regeln weltweit durchzusetzen versucht. Diese Form der politischen schwarzen Pädagogik kommt allmählich an die Grenzen ihrer Wirksamkeit – und genau das scheint ein Grund für die ständige Warnung zu sein, hier dürfe doch ja keiner aus der Reife tanzen oder gar zu zweifeln beginnen. Aber genau dieser Zweifel und eine öffentliche Debatte sind jetzt angebracht, um größeren Schaden von Europa abzuwenden.
Wandel durch Annäherung
Dabei lässt sich durchaus das Anfangsmotiv dieser Sanktionspolitik verstehen. Man wollte in akuten Krisen und geopolitischen Konflikten Widerstand gegenüber den Handlungen mancher Staaten organisieren und scheiterte damit nicht selten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am Veto von Russland oder China. Gleichzeitig wurde der Weg, dann eben eine militärische Aktion – gestützt auf die Nato oder eine „Koalition der Willigen“ wie im Irak, in Afghanistan, Syrien, Libyen – zunehmend nicht mehr von Erfolg gekrönt. Sie endeten in Niederlagen, endlosen Stellvertreterkriegen und mit der Destabilisierung ganzer Weltregionen.
So griffen die USA und die ökonomisch bestimmenden Staaten zum Mittel der Sanktionen. Sanktionen sind aber keineswegs ein Instrument gewaltfreier Politik. Wirtschaftliche Sanktionen sind Instrumente des Wirtschaftskrieges und bergen immer die Gefahr, dass der Konflikt zur offenen militärischen Konfrontation eskaliert, was sich an den aktuellen Sanktionen gegen Russland deutlich abzeichnet.
Ein kurzer Blick zurück: Während der Zeit des Kalten Krieges waren Sanktionen als Mittel internationaler Konfliktaustragung nicht üblich. Weder auf den Aufstand des 17. Juni oder den Mauerbau in Berlin, weder auf den Ungarn-Aufstand, den Einmarsch des Warschauer Paktes in Prag noch auf die Niederschlagung der polnischen Widerstandsaktionen der Solidarnosc wurde mit Wirtschaftssanktionen reagiert.
Ganz im Gegenteil und fast paradox: Damals entstanden die Grundideen einer auf realpolitische Nüchternheit gegründeten Entspannungspolitik, die gerade in einer wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen blockübergreifenden Vernetzung eine Hoffnung auf „Wandel durch Annäherung“, auf Überwindung der Spannungen und Zutrauen auf eine Reformpolitik auch jenseits des Eisernen Vorhangs vermuteten. Das war kühn gedacht, immer von Misstrauen begleitet und medial heftig umstritten. Aber es war am Ende äußerst erfolgreich – und endete mit der Ära Gorbatschow.
Angst macht sich breit
Ein Konzept von gleichem Mut, von gleicher Weitsicht fehlt heute völlig. Die EU-Kommission sitzt inzwischen an der Planung des siebten (!) Sanktionspakets – ohne auch nur einmal zu verifizieren, ob diese Methode denn die erwünschte Wirkung erzeugt. Es ist eine Wirtschaftspolitik der verbrannten Erde. Realpolitische und wirtschaftliche Vernunft mahnt längst, dass die Folgen dieser expansiven Sanktionspolitik immer stärker uns selbst und die eigene wirtschaftliche Stabilität gefährden. Das eingeschüchterte Volk aber wird ermahnt, mitzuhelfen und kürzer zu duschen. Angst macht sich breit, die Inflation treibt die Lohn-Preis-Spirale an, nicht nur im Energie- und Chemiesektor drohen Insolvenzen und Arbeitslosigkeit. Deutschland mit seiner rohstoffabhängigen und exportorientierten Industrie ist besonders gefährdet, und seine führenden Politiker wissen das auch.
Die Instabilität der Lieferketten kommt hinzu. Genau genommen, erleben wir in unseren wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland und China jetzt bereits ein hochriskantes Weltexperiment mit ungewissem Ausgang. In den letzten 30 Jahren sind infolge der ungebremsten Globalisierung unzählige wirtschaftliche Querverbindungen, Austausch von Waren und Know-how, Partnerschaften jeder Art zwischen West und Ost geknüpft worden. Jetzt wird mit der Drohung von Sanktionen, Enteignungen, Zollschranken dieses ganze weltumfassende Gewebe von Rohstofflieferungen, Zulieferketten, Handelswegen wie mit einer Axt zerteilt.
Viele Konzerne verlassen unter der erpresserischen Knute aktueller und drohender Sanktionen Russland und China. Die materiellen und immateriellen Verluste sind unschätzbar. Im Endergebnis werden wir auch wirtschaftlich später einmal zwei völlig getrennte Welten haben: die asiatisch-russische und die westliche. Aber bis diese Trennung einer bisher funktionierenden gemeinsamen Weltökonomie vollzogen ist, wird es mindestens zehn Jahre Chaos und unendliche Wirtschaftskrisen geben. Wer kann das ernsthaft sehenden Auges und klaren Verstandes wollen? Und wer ist sich so sicher, dass Afrika, Lateinamerika, der Nahe Osten, Südamerika dann auf unserer Seite des geteilten Globus andocken wollen?
Keine Alternative zur Realpolitik
Ich verstehe das Dilemma der aktuellen Politik. Ich verstehe sogar, dass sie sagt: Das alles hat uns Putin aufgezwungen. Aber das ist eben nur die halbe Wahrheit. Noch sind wir selbst Herren unserer politischen Entscheidungen. Wir müssen nicht aus Angst vor dem moralischen Tod Selbstmord begehen. Es gibt keine ernsthafte Alternative zu nüchterner Realpolitik. Wir leben in einer Welt und auf einem Kontinent. Der Traum der demokratisch-moralischen Weltmission des Westens hat einerseits viel liebenswerten Enthusiasmus, andererseits viel Doppelmoral und politische Unvernunft befördert. Die Aufgabe des Augenblicks ist, den fahrenden Zug Richtung Eskalation anzuhalten, nachzudenken und wieder ins Gespräch zu kommen.
Wo sind die diskreten Emissäre aus Frankreich und Deutschland vom Kaliber eines Egon Bahr, die erst einmal dauerhaft ihre Zelte in Moskau und in Kiew aufschlagen, um zu sehen, wo es einen Ausweg geben könnte? Wo ist die Delegation der Uno, die mit einem Mandat der Vollversammlung das Gleiche versucht? Wer greift das durchaus überzeugende Konzept einer Experten-Kommission auf, die im Vatikan getagt und Bedingungen für einen Waffenstillstand erkundet hat? Wo ist die Debatte über dieses Papier in den deutschen Leitmedien? Wo ist eine neue Bewegung der blockfreien Staaten, gestützt auf die wichtigen und bevölkerungsreichen Länder, die sich in der Uno bei der Resolution gegen Russland enthalten haben?
Es stimmt nicht, dass es angesichts dieses Krieges keine Alternativen zur Sanktionspolitik gibt. Es wird nicht einfach, das Steuer herumzureißen. Zu viele waren beteiligt am Weg in die falsche Richtung. Aber sage keiner, die Bevölkerung würde einen solchen Ausweg nicht unterstützen. Das Gegenteil ist der Fall: Alle warten endlich auf ernsthafte Verhandlungen.
Der Gastbeitrag von Antje Vollmer ist erschienen am 14. Juli 2022 in „Cicero“ in Kooperation mit „Berliner Zeitung“.