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Will denn in Deutschland keiner mehr arbeiten?
Eine kritische Betrachtung.
Der Fachkräftemangel erreicht in Deutschland einen neuen Höchststand. Im Juli waren 49,7 Prozent der Unternehmen beeinträchtigt. Das geht aus einer Erhebung im Rahmen der Ifo-Konjunkturumfragen seit dem Jahr 2009 hervor. Die Steigerung gegenüber dem April dieses Jahres – damals waren es 43,6 Prozent – ist erheblich. Auffallend ist, dass das Problem deutschlandweit akut ist: In Ostdeutschland beträgt der Anteil der vom Fachkräftemangel betroffenen Unternehmen derzeit 49,8 Prozent, während er in Westdeutschland bei 49,7 Prozent liegt.
Branchenübergreifendes, flächendeckendes Problem
Demnach gibt es zurzeit keine Unterschiede mehr: „Es handelt sich um ein flächendeckendes Problem“, so die Arbeitsmarktexperten des Ifo-Instituts. Die deutsche Wirtschaft sieht man vor großen Problemen. „Die Lage ist kritisch. Wir sehen seit vielen Monaten einen Anstieg, aber die jüngsten Zahlen haben mich in der Deutlichkeit überrascht“, sagt Bernhard Jurasch, Personalexerte von BBJ Consulting Hamburg.
Auffallend ist, dass die Dienstleistungsbranche besonders betroffen ist: 54,2 Prozent der Unternehmen sagen, sie hätten Probleme, Mitarbeiter zu finden. Im April waren es 47,7 Prozent gewesen. Besonders stark betroffen ist die Branche der Recruiter und Arbeitsvermittler: 77,9 Prozent der Betriebe haben Schwierigkeiten. Ebenfalls stark betroffen ist mit 72 Prozent der Bereich Steuerberater, Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer. In diesem Segment sind die Anforderungen wegen des Anwachsens der Bürokratie, etwa im Bereich der Steuererklärungen, besonders eklatant.
Auch die Dienstleistungen in der IT-Branche können nur noch unter erschwerten Bedingungen erbracht werden, 61,7 Prozent der Betriebe haben Probleme. Die Beherbergungsbetriebe und die Veranstaltungsbranche lagen mit rund 64 Prozent über diesem Branchendurchschnitt. In der Lager-Logistik Branche waren 62,4 Prozent der Betriebe von einem Mangel betroffen.
Im verarbeitenden Gewerbe klagten 44,5 Prozent der Umfrageteilnehmer über fehlendes Fachpersonal. Darunter waren 58,1 Prozent der Nahrungsmittelhersteller durch den Fachkräftemangel beschränkt. Auch die Hersteller von Datenverarbeitungsgeräten und von Metallerzeugnissen finden nur schwer fachkundiges Personal – rund 57 Prozent haben Probleme. Der Einzelhandel war mit 41,9 Prozent betroffen, der Bau mit 39,3 Prozent, und im Großhandel meldeten 36,3 Prozent der Firmen einen Mangel an Fachkräften.
„Immer mehr Unternehmen müssen ihre Geschäfte einschränken, weil sie einfach nicht genug Personal finden“, warnt Bernhard Jurasch. Mittel- und langfristig dürfte dieses Problem noch schwerwiegender werden – mit möglicherweise weitreichenden Konsequenzen. „Für Unternehmen ohne genügend qualifizierte Arbeitskräfte kann die Situation auch durchaus irgendwann existenzbedrohend werden.“
Mit grundlegenden Maßnahmen gegensteuern
Eine Lösung des Problems sei nur durch kurzfristige Maßnahmen nicht mehr zu erreichen. „Wir müssen über grundlegende Maßnahmen nachdenken“, fordert Jurasch: „Dazu gehört wegen der Bevölkerungsentwicklung eine verstärkte Einwanderung, unbürokratischere Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen sowie eine bessere Ausschöpfung des bereits vorhandenen Potenzials, etwa durch die Möglichkeit, über das Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten.“ Im Hinblick auf die hohen Erwartungen an die Migration scheint die Sicht realistischer zu werden: „Die Zuwanderung der vergangenen Jahre hat uns ein wenig geholfen, aber langfristig können wir das Problem auch nicht nur mit Zuwanderung lösen“, so der Personalexperte.
Auch kurzfristig könnten keine Wunder erwartet werden: „Flüchtlinge aus der Ukraine sind keine langfristige Lösung, da sicherlich auch viele wieder in ihre Heimat zurückkehren wollen.“ Insgesamt müssten die Unternehmen dafür sorgen, dass es sich wieder lohnt, einen Job anzunehmen: „Wir brauchen eine höhere Attraktivität der Jobs. Dazu gehören ein gutes Gehalt und gute Arbeitsbedingungen, etwa durch flexible Arbeitszeiten“, sagt Jurasch. Doch das Problem kommt zu einem kritischen Zeitpunkt: „Die hohe Inflation und die steigenden Materialkosten machen es für viele Unternehmen zusätzlich sehr schwer, gut zu wirtschaften.“
Die jüngste Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns könnte für kleine Unternehmen indes eine Barriere darstellen. Die Erhöhungen der Sätze bei den Sozialleistungen könnten ebenfalls bremsend wirken: Für viele Leute – etwa im Niedriglohnsegment – ist es heute attraktiver, auf die Annahme einer Arbeitsstelle zu verzichten.